Arbeitskreis Raumphänomenologie im VGdH und DGfG
Call for Papers (CFP) zu Beiträgen über »(Raum-)Phänomenologie & Gesellschaftstheorie«
(16.-18.01.2025 / Universität Bayreuth)
Mit der Annahme, dass nahezu alle gesellschaftlichen Sphären einer zunehmenden (gesellschaftlichen) Flexibilisierung unterworfen sind (zunächst: Marx/Engels 1848; später Boltanski/Chiapello 2006) kann sie als Verflüssigung oder gar Verflüchtigung unserer sozialen und kommunikativen Bedingungen begriffen werden, welche so weitreichend die Zusammenhänge der Lebenswelt verändert (Bauman 2003), dass sie Ungewissheiten und Krisen evoziert – wie dies gleichwohl zur Grunderfahrung der Moderne überhaupt gehört (Reckwitz 2024). Dies gilt auch für die räumliche Verortung, für Herkünfte, Heimaten und Zukünfte individueller Erfahrung oder gesellschaftlicher Integration, bei (Krisen-)Szenarien der Migration ebenso wie im Hinblick auf ökologische Diskurse oder in Abwendung von dieser
Moderne. Diese Ambivalenzen stellen auch eine Herausforderung für die Geographie dar, die sich mit den räumlichen Aspekten (spät-)moderner Gesellschaften befasst: Welche Ortsbezüge etablieren Menschen in der ‘verflüssigten’ Moderne, welche Ortsverluste erfahren sie im flexibilisierten Kapitalismus (Sennett 1998), welche Räumlichkeiten des ‚Natürlichen’ geraten in die Krise und wie wird Gesellschaft unter diesen Bedingungen individuell erfahren
und hergestellt (Caminada 2019; Schauer 2023)?
Vor diesem Hintergrund wollen wir die Schnittstelle zwischen (Raum-)Phänomenologie und Gesellschaftstheorie bearbeiten, die uns der zentrale Nexus zu sein scheint, um diese Veränderungssymptome besser analysieren und verstehen zu können. Phänomenologie und Gesellschaftstheorie stehen in einem komplementären Verhältnis. Während phänomenologisch das subjektive Entstehen und Erfahren von Wirklichkeit erfasst werden kann (z.B. Merleau-Ponty, Schütz, Stein, Conrad-Martius, Böhme), stellen Gesellschaftstheorien einen breiteren Rahmen zur Verfügung, um Handlungen, Kommunikationen, Interaktionen oder Konflikte zu analysieren. Wir wollen sie nutzen, um die räumlichen Aspekte von Vergesellschaftung, von Individuum und Sozialwelt in diesen wechselseitigen Bezügen zu beleuchten.
Unser Fokus liegt dabei auf den (sozial-)räumlichen Dimensionen des Sozialen, auf deren Resonanzräumen, Raumsphären oder Sozioblasen. Wir wollen damit auch aktuelle Debatten aufgreifen, die das Verhältnis Individuum und Gesellschaft neu gesellschaftstheoretisch ausmessen (z.B. Gros, Dreher und Rosa 2025).
Zwar wurden bereits Potenziale und Herausforderungen der Verknüpfung von Gesellschaftstheorie und Phänomenologie erschlossen (Srubar 2007, Raab et al. 2008, Sloterdijk 2004, Zahavi 2014, Schulz 2024), doch variierende Verständnisse von Räumlichkeit und Raum, sowohl in der Erfahrungswelt als auch im Denken, werden immer noch zu wenig berücksichtigt. Für individuelle und gesellschaftliche Prozesse ist dies jedoch von Relevanz und spiegelt sich in der eigenen Disziplinhistorie der Geographie wider: So sind in der Sozial- und Kulturgeographie Gesellschaftstheorien zwar zur Erforschung von raumbezogenen Phänomenen etabliert (Handlungstheorie, Systemtheorie, Kritische Theorie oder Akteur-Netzwerk-Theorie) und werden zugleich durch phänomenologische Zugänge erweitert (exemplarisch: Hasse, 2020; Kühne, 2019; Dörfler & Rothfuß 2023). Die Erforschung der Verbindungslinien zwischen Raumphänomenologie und Gesellschaftstheorie ermöglicht es aber, das komplexe Wechselspiel tiefgehender zu verstehen. Folglich suchen wir aus phänomenologischer und/oder gesellschaftstheoretischer Perspektive neue Ideen und Erkenntnisse, die sich der Weiterentwicklung dieser Fragestellungen widmen.
Drei Themenfelder können dabei im Mittelpunkt stehen:
- Die sich abzeichnenden neuen gesellschaftlichen Bedingungen im Zeichen der Diffusität und zunehmender Variabilität erfordern Raumverständnisse die von den klassischen Charakteristiken abweichen, so dass Atmosphären, Resonanzen, Verschachtelungen (ontologische Übergänge/Überlappungen von bspw.: Fantasie,
Mind-Wandering und Realraum etc.), Unschärferelationen (»Sowohl-als-auch«), Sphären oder (räumliche) Intensitäten im Mittelpunkt auch humangeographischer Überlegungen stehen können. - Selbst der Begriff des Individuums, als Anker der gesellschaftlichen Modernität, erfordert eine Reflexion. Das Menschliche als Gegenüber dem Um- und Mitweltlichen erscheint in neuem Licht, und es stellt sich die anthropologische Frage, in welchen (Erfahrungs-)Räumen es sich verwirklichen kann. Hier tauchen klassische geographische Begriffe wie Ort, Landschaft, Territorium in anderem Gewand wieder auf, die zu einem neuen Nach-Denken, aber auch ein zu einem projizierten Vor-Denken aus phänomenologischer Sicht auffordern.
- Die Angleichung globaler Gesellschaft-Natur-Verhältnisse und die Auflösung der Grenzschicht zwischen beiden Sphären erfordert einen erweiterten Raumbegriff – im Sinne von Räumlichkeiten. Jedoch sind insbesondere im soziologischen Diskurs die beiden Differenzen Raum/Gesellschaft und Gesellschaft/Umwelt grundlegend unterschieden worden, während die geographischen Arbeiten auch auf eine Integration dieser zielen. Hieraus ergeben sich neue epistemologische Herausforderungen für das Erleben und zugleich – auf gesellschaftstheoretischer Ebene – Abstrahieren und Reflektieren dieser verschiedenen Räumlichkeiten.
Zu fragen wäre demnach, ob und wie Gesellschaftstheorien dies konkret thematisieren und wie phänomenologisch in diesem Zusammenhang geforscht werden kann – welche Verbindungslinien hier also gelingen könnten, um auf beiden Seiten etwas mehr ‘sehen’ zu können. Neben theoretischen Beiträgen oder Präsentationen von Forschungsarbeiten sind wir auch offen für andere Workshop-Formate.
Wir möchten diese Veranstaltung als interaktiven Erfahrungsaustausch für Interessierte aus allen Fachrichtungen sowie aller Qualifikationsstufen gestalten und ermutigen daher zur Einreichung von Abstracts, die auch innovative Herangehensweisen adressieren.
Einsendeschluss für Abstracts (max. 500 Wörter unter Angabe des Formats: z.B. Vortrag/Lesezirkel/Workshop) bis 15.12.2024 an: info@ak-raumphaenomenologie.de
Verweise:
Bauman, Z. (2003). Flüchtige Moderne. Suhrkamp.
Boltanski, L./Chiapello, E. (2003). Der neue Geist des Kapitalismus. UVK.
Caminada, E. (2019). Vom Gemeingeist zum Habitus: Husserls Ideen II. Sozialphilosophische Implikationen der Phänomenologie (Bd. 225). Springer
Dörfler, T./Rothfuß, E. (2023). The geography of the life-world: Spatialising the social theory of Alfred Schütz. In: Erdkunde 77, S. 149-161.
Gros, A., Dreher, J. & Rosa, H. (vsl. 2025). Phänomenologie und Kritische Theorie. Suhrkamp.
Hasse, J. (2020). Was Räume mit uns machen – und wir mit ihnen. Kritische Phänomenologie des Raumes. Karl Alber.
Kühne, O. (2024). Phänomenologische Landschaftsforschung. In: Kühne et al. (Hg.), Handbuch Landschaft. Springer. S. 91–103
Marx, K./Engels, F. (1848). Manifest der Kommunistischen Partei. In: MEW, Bd. 4, Dietz 1959, S. 459-493
Raab et al. (Hg.) (2008). Phänomenologie und Soziologie. Theoretische Positionen, aktuelle Problemfelder und empirische Umsetzungen. Springer.
Reckwitz, A. (2024). Verlust. Ein Grundproblem der Moderne. Suhrkamp.
Schauer, A. (2023). Mensch ohne Welt. Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung. Suhrkamp.
Schulz, M. (2024). Existenz und Gesellschaft. Eine leibphänomenologische Vergesellschaftungstheorie nach Georg Simmel und Hermann Schmitz. transcript.
Sennett, R. (1998). Der flexible Mensch. Siedler.
Sloterdijk, P. (2004). Sphären. Suhrkamp.
Srubar, I. (2007). Phänomenologie und soziologische Theorie. Aufsätze zur pragmatischen Lebenswelttheorie. Springer.
Zahavi, D. (2014). Self and Other: Exploring Subjectivity, Empathy, and Shame. Oxford University Press.