Urban Loss
Historische und geographische Perspektiven auf Verlusterfahrungen und -erzählungen
in den Transformationen der modernen Stadt
20.–21. März 2025 in Jena
Wachstum und Fortschritt waren die zentralen Motive der Moderne und prägten Diskurse und Narrative über die Stadtentwicklung. Die Kritik an dieser Erzählung wurde jüngst erneuert, indem auf spezifische Erfahrungen des Verlusts in der Moderne hingewiesen wurde (RECKWITZ 2024). Damit werden neue historische und geographische Perspektiven auf die europäischen Städte der Moderne möglich (M ARRIS 1986; KÖRNER 2000; OSWALT 2006; DESILVEY & EDENSOR 2013; M ADDRELL 2016; J EDAN ET AL. 2020; S CHULTE 2020; MENA & P ICO 2020). In Städten akkumulieren und manifestieren sich kollektive und individuelle Erfahrungen von Verlust. Einerseits unterliegen Städte einer materiellen Transformation ihrer baulichen Substanz, die sich entweder disruptiv durch Kriege, (ökologische) Katastrophen oder autoritären Stadtumbau, oder in einem inkrementellen Prozess der kreativen Zerstörung durch ökonomisch oder politisch motivierte Erneuerung vollzieht. Andererseits waren und sind Städte Kristallisationspunkte gesellschaftlicher Transformationen – z.B. gegenwärtig sozial-ökologische Transformationsbestrebungen und damit verknüpfte Auf-, Um- und Abbrüche. So werden in Städten vielfach neue Gesellschaftsentwürfe und Praktiken erprobt, was mit fortlaufenden Aushandlungen von Veränderung(en) einhergeht. Die mit diesen Dynamiken zwangsläufig verknüpften Verluste werden in Städten jedoch sehr unterschiedlich erfahren, erinnert und bearbeitet. Folglich werden Städte zu sozialen Arenen der diskursiven Aushandlung und narrativen Bearbeitung von Verlusterfahrungen, die sich in Folge demographischer, sozialer, (stadtentwicklungs-)politischer und ökologischer Transformationen ergeben und deren Erzählungen und Erinnerungen in der Stadt ihren räumlichen Ausdruck finden. Vor diesem Hintergrund wird die Analyse des Umgangs mit und der Bearbeitung von Verlusterfahrungen in ihren raumbezogenen Narrativen (z.B. Trauer, Nostalgie, Protest etc.) zu einem wesentlichen Element für das Verständnis (spät-)moderner Stadtentwicklung. Ein Blick auf städtische Verlustverhältnisse beleuchtet dabei sowohl die heterogenen Verluste in der Stadt als auch die historischen und gegenwärtigen Prozesse eines Verlusts von Stadt – d.h. städtebaulicher Substanz und/oder Urbanität. Beide Verlustaspekte prägen stadtgesellschaftliche Gefüge, Identitäten, Konflikt- und Aushandlungsprozesse und deren räumliche, städtebauliche und architektonische Ausdrucksformen.
Eingeladen sind Beiträge aus der Stadtgeographie und -soziologie, der Stadt- und Architekturgeschichte, den raum- und planungsbezogenen Disziplinen sowie aus den Geschichts- und Kulturwissenschaften, die empirische Beispiele und konzeptionelle Überlegungen vorstellen. Gefragt wird nach Beiträgen, die die sozialen, kulturellen und ökonomischen Auswirkungen von Verlusterfahrungen und deren narrativer/bildlicher/performativer Repräsentation diskutieren sowie nach Beiträgen, die Erfahrungen und Praktiken der Verlustbearbeitung in der modernen Stadt verorten. Gemeinsam soll diskutiert werden, wie sich Stadtgesellschaften und -kulturen durch die Erfahrung von materiellen oder immateriellen Verlusten verändern und welche Rolle spezifische Umgangsweisen mit Verlust wie Kompensation, Verdrängung, Rekonstruktion oder Gedenken dabei übernehmen.
Die Beiträge sollen das Verständnis für frühere, gegenwärtige und zukünftige Umgangsweisen mit antizipierten oder realen Verlusterfahrungen, sich wandelnden Zukunftsvorstellungen oder einem brüchig werdenden Fortschrittsnarrativ stärken. Der Blick auf städtische Verlustverhältnisse liefert grundlegende Erkenntnisse darüber, wie in verschiedenen städtischen Erfahrungsräumen und Entwicklungspfaden Umgangsweisen mit Krisen und Herausforderungen gesellschaftlicher Transformation entstehen und wie Stadtgeschichten und -zukünfte jenseits klassischer Fortschritts- und Wachstumsnarrative verhandelt werden. Dies verspricht auch neue Perspektiven auf die gegenwärtigen stadtentwicklungspolitischen Debatten wie z.B. Fragen nach der Gestaltung sozial-ökologischer und nachhaltiger Transformation in der Stadt und nach den gesellschaftlichen Umgangsweisen mit dadurch entstehenden Verlusterfahrungen, oder Fragen der erinnerungs- und gedenkpolitischen Verortung von Verlust in Städten.
Besonders willkommen sind Beiträge zu einem oder mehreren der folgenden Themenfelder:
- Welche Erfahrungen, Orte und Praktiken des Verlusts in der Stadt, oder von städtebaulicher Substanz und Urbanität, entstehen in Bezug zu welchen gesellschaftlichen Prozessen, Transformationen und Konfliktlinien, und welche Bedeutung haben diese Verluste für städtisches Zusammenleben sowie für die Aushandlungen stadtgesellschaftlicher Identitäten und Zukünfte?
- Wie lassen sich vor dem Hintergrund sozialstruktureller Veränderungen durch Verlust die gesellschaftliche Differenziertheit sowie die (anerkennungs-)politische Umkämpftheit von Verlusterfahrungen – und ihren (Un-)Sichtbarkeiten – fassen?
- Was sind die Ausdrucksformen städtischer Verlusterfahrungen und welche individuellen und kollektiven Veränderungen der städtischen Raumwahrnehmung ergeben sich durch Verluste? Wie werden diese Erfahrungen in und durch (welche) soziokulturelle Praktiken wirksam gemacht (‚doing loss‘)?
- Welche politischen, gesellschaftlichen, kulturellen Faktoren machen Stadtgesellschaften gegenüber Verlusterfahrungen widerstandsfähig/resilient? Welche Faktoren verschärfen das Verlustempfinden oder die konkreten Auswirkungen von Verlusten?
- Was lässt sich aus kontextualisierten Historiographien von Verlusten in der Stadt oder Verlusten von städtebaulicher Substanz und Urbanität für den Umgang mit gegenwärtigen gesellschaftlichen und kulturellen Verlusten lernen? Wie werden Verlusterfahrungen erinnert (Musealisierung, Vergessen/Verdrängen, Integration in vorhandene Narrative)?
Gebeten wird um die Zusendung von Abstracts (1-2 Seiten) an simon.runkel@uni-jena.de, manuel.schramm@phil.tu-chemnitz.de und jan.winkler@geo.uni-halle.de bis zum 20. Dezember 2024. Die Tagung wird organisiert und (ko-)finanziert zu Teilen im Rahmen einer Projektförderung durch die Gerda Henkel-Stiftung (zu verschwindenden Städten am Beispiel Johanngeorgenstadt) und zu Teilen im Rahmen einer Projektförderung durch den vhw – Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e.V. (vhw) zu Verlust als Perspektive auf sozial-ökologische Transformationen in Städten. Wir bedanken uns sehr herzlich bei den Fördergebern.
Referenzen
- Desilvey, C./ Edensor, T., Reckoning with Ruins, Progress in Hum. Geo. 37 /4), 465-485, 2013.
- Jedan, C./Maddrell, A./Venbrux, E. (Hg.), Consolationscapes in the Face of Loss, Grief and Consolation in Space and Time, Abindgon 2020.
- Körner, M. (Hg.), Stadtzerstörung und Wiederaufbau. 3 Bde., Bern 2000.
- Maddrell, A., Mapping Grief, a Conceptual Framework for Understanding the Spatial Dimensions of Bereavement, Mourning and Remembrance, Social & Cultural Geography 17 (2), 166-188, 2016.
- Marris, P., Loss and Change, London/New York 2. Aufl. 1986.
- Mena, F./ Pico, P. (Hg.), Urbicide, The Death of the City, Cham 2023
- Oswalt, P. (Hg.), Schrumpfende Städte. 2 Bde., Aachen 2006.
- Reckwitz, A., Verlust, ein Grundproblem der Moderne, Frankfurt/Main 2024.
- Schulte, D., Die zerstörte Stadt, Katastrophen in den schweizerischen Bilderchroniken des 15. und 16. Jahrhunderts Zürich 2020