Forschung

Einblicke in die Geographie

Erdsystemwissenschaft – eine Heimat auch für die Geographie?

Die Nationale Akademie der Wis- senschaften Leopoldina veröffentlichte im Sommer 2022 einen Zukunftsreport mit dem Titel „Erd- systemwissenschaft: Forschung für eine Erde im Wandel“. Das Autorenteam plädiert für die Leitidee einer Erdsystemwissenschaft, mit der die geowissenschaftlichen Fächer konzeptionell und strukturell zukunftsfähig gemacht werden sollen. Nach innen soll die häufig beklagte Fragmentierung der Geowissenschaften überwunden werden, damit nach außen die Wahrnehmbarkeit erhöht und gegenüber Öffentlichkeit, Politik und Wissenschaftsförderung mit einer Stimme gesprochen werden kann.

Bündelung der Forschung

Der Report begründet die Notwendigkeit einer stärkeren Bündelung der geowissenschaftlichen Forschung auch mit den planetaren Grenzen und den zunehmenden Herausforderungen im Anthropozän. Angesichts gewaltiger Zu- kunftsaufgaben wie Klimawandel, Artensterben oder zunehmender Vulnerabilität wird sogar eine „Ära der Geowissenschaften“ postuliert. Sechs Maßnahmenbündel werden vorgeschlagen, um die Rolle der deutschen Geowissen- schaften zu stärken: (1) Etablie- rung der Leitidee der Erdsystem- wissenschaft, (2) Aufbau neuer Kapazitäten zur Erdbeobachtung, (3) Weiterentwicklung von Kapa- zitäten für Big Data, (4) Neustruk- turierung der universitären Ausbil- dung einschließlich integrativer, fachübergreifender Studiengänge, (5) Aufbau von Kompetenzen zur Kommunikation von Lösungsvor- schlägen sowie (6) Stärkung der Vernetzung nach innen und nach außen.

Diskussion und Kritik

Der Report hat die Diskussion um die Zukunft der geowissenschaftlichen Fächer befruchtet und eine anregende Dynamik ausgelöst. Insbesondere aus der Humangeographie und der Geographiedidaktik wurde aber auch Kritik geäußert. Diese entzündete sich insbesondere an der einseitig naturwissenschaftlichen Perspektive auf das Anthropozän. Damit verbunden bleibt die Rolle der Humangeographie unklar, je nach Lesart kann sie als Teil der Erdsystemwissenschaft oder auch als Nachbardisziplin verstanden werden. Schließlich wurde auch die vorwiegend instrumentell an der Rekrutierung zukünftiger Studierender ausgerichtete Strategie für die Schule kritisiert. Zwar verzichtet der Report auf die Forderung nach einem neuen Schulfach „Erdsystemwissenschaft“, er ignoriert aber auch weitgehend die Rolle der Geographie als Zentrierungsfach für die schulische Auseinandersetzung mit dem Planeten Erde.

Ende 2022 fand an der Leopoldina ein gut besuchtes Symposium statt, auf dem die Anregungen aus dem Zukunftsreport konstruktiv weiterentwickelt werden sollten. Die Beteiligung aus der Geographie war erfreulich, die Gesprächsatmosphäre offen und wertschät- zend. Die Geographie wäre gut beraten, diese positiven Impulse aufzugreifen, die Deutungshoheit über Zukunftsthemen nicht alleine anderen zu überlassen und sich in entsprechende Debatten einzubringen – auch wenn diese nicht immer einfach sind und nicht jede Maximalposition durchsetzbar ist.

Als ein erstes Zeichen, dass die Leitidee der Erdsystemwissenschaft neue Realitäten schafft, kann die Ankündigung der Volkswagenstiftung verstanden werden, die Weiterentwicklung der Erdsystemwissenschaft mit 10 Mio. € zu fördern.


Autor

Prof. Dr. Boris Braun
Erster Vorsitzender des Verbandes für Geographie an deutschsprachigen Hochschulen und Forschungseinrichtungen (VGDH), boris.braun@uni-koeln.de

Der Artikel ist in Zusammenarbeit mit der Geographischen Rundschau im Westermann-Verlag, Heft 3-2023 erschienen.