Veröffentlichungen

Rundbrief Geographie Heft 316

Veröffentlicht im Rundbrief 316

Editorial: Mentale Gesundheit von Studierenden während Geländeveranstaltungen

Liebe Leserinnen und Leser,

auf den vielfältigen Geländeveranstaltungen der Geographie können psychisch belastete Studierende
vor enorme Herausforderungen gestellt werden. Geländeveranstaltungen sind vielfach die Highlights im Geographiestudium. Studierende lernen und erfahren in der Realität dort „draußen“ wichtige Kernkompetenzen und verknüpfen Theorie mit Praxis. Unabhängig davon, ob es sich dabei um Exkursionen oder forschungsorientierte
Geländepraktika handelt, sind die Intensität der neuen Eindrücke, der Umfang des Lernstoffs und die teils auch körperliche Anstrengung für alle Beteiligten um ein Vielfaches höher als im Studienalltag an der Universität. Insbesondere mehrtägige Veranstaltungen bilden über den eigentlichen Lerninhalt hinaus gruppendynamische
Herausforderungen, z. B. hinsichtlich unterschiedlicher kulinarischer Ansprüche, Schlafgewohnheiten, fehlender individueller Rückzugsorte oder persönlich (noch) unbekannter Personen innerhalb einer Gruppe. Die Herausforderungen können noch verstärkt werden, wenn Veranstaltungen in anderen Kulturräumen und/oder in Regionen mit ungewohnten Klimabedingungen durchgeführt werden. Dadurch existiert, auch im Zusammenhang mit einem intensiven inhaltlichen Programm, ein breites Spektrum an potentiellen Spannungsfeldern für Dozierende und Studierende bezüglich der mentalen Gesundheit. Studierende mit psychischen Belastungen haben damit erhebliche Herausforderungen, sicht- aber auch unsichtbar für Außenstehende. Auch ist der mögliche Einblick in die eigene Privatsphäre durch Kommiliton:innen und Dozierenden in dem ganz und mehrtätigen Kontakt deutlich größer als in einzelnen Lehrveranstaltungen innerhalb des regulären Lehrbetriebs.

Etablierte Geograph:innen können die „nichtfachlichen“ Herausforderungen im Vorfeld in der Regel besser abschätzen und haben entsprechende Routinen entwickelt, wenngleich auch für Dozierende die Leitung von Geländeveranstaltungen eine Belastung sein kann. Des Weiteren können auch potenzielle Konflikte zwischen
unterschiedlichen Generationen vorliegen. Körperliche und mentale Belastungen im Gelände, die früher „normal“ waren, müssen nicht zwingend auch von der heutigen Generation Studierender akzeptiert werden. Es ist zu beachten, dass trotz verändertem privatem Reiseverhalten Exkursionen und Geländepraktika absolute Ausnahmen darstellen und neu für Studierende sind. Lehrende haben oft mehrjährige Erfahrungen im Zielland und sind mit arbeitsintensiven Geländephasen vertraut. Weiterhin gibt es eine Vielzahl von Studierenden, die Teile ihres Studiums unter den Auswirkungen der Corona-Pandemie absolviert haben. Die Zahl der durchgeführten Geländetage innerhalb des Studiums ist dadurch häufig stark verringert, entsprechende Erfahrungen fehlen.
Eine intensive Auseinandersetzung mit mentaler Gesundheit und den Umgang mit psychisch belasteten Studierenden ist nicht nur für die Betroffenen selbst hilfreich, sondern auch für die Lehrpersonen von Bedeutung. Es ist häufiger die Regel als die Ausnahme, dass die Veranstaltungsleitung ohne jegliche psychologische Aus- und Fortbildung den möglichen individuellen oder gruppendynamischen Konflikten ausgesetzt ist. Einerseits wurde das Thema psychische Gesundheit in den letzten Jahren zwar deutlich enttabuisiert und es herrscht ein offenerer Zugang in der Gesellschaft. Andererseits ist das persönliche Wissen über konkrete Krankheitsfälle und Symptome bei vielen Lehrenden weiterhin ausbaufähig.

In Zusammenarbeit mit der Psychotherapeutischen Beratungsstelle der Johannes-Gutenberg- Universität Mainz werden aktuell Workshops zum gemeinsamen Austausch mit Supervisionen für Lehrkräfte durchgeführt und mögliche Handlungsempfehlungen für Geländeveranstaltungen innerhalb der Geographie erarbeitet. Diese haben
im Vergleich zu vielen anderen Fächern mit den dargestellten Herausforderungen einige fachspezifische Besonderheit. So sind Vorbereitungen mit Bezug auf das Thema mentale Gesundheit vorab wünschenswert. Die nachfolgenden Auszüge einer Handlungsempfehlung geben einen Einblick in die Herausforderungen im Umgang mit psychisch belasteten Studierenden und sollen Lehrende auf Reisen unterstützen.

Fast ein Drittel aller Erwachsenen in Deutschland ist jedes Jahr von einer psychischen Störung betroffen. Psychische Störungen sind inzwischen die häufigste Form chronischer gesundheitlicher Beeinträchtigungen bei Studierenden (STEINKÜHLER  et al., 2023: Die Studierendenbefragung in Deutschland: best3). Eine Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex der mentalen Gesundheit ist damit auch rein quantitativ für viele Personen wichtig. Schnell wird klar, dass alle Dozierenden bewusst oder unbewusst bereits mit betroffenen Studierenden in Kontakt waren oder kommen werden.

Drei Gruppen von psychischen Störungsbildern sind die häufigsten und damit für Lehrende am relevantesten: (1) Depressionen/Niedergeschlagenheit; (2) ADHS/Reizüberflutungen; (3) Ängste. Häufige Situationen mit einem plötzlichen, teils unerwarteten Auftreten, sind akute Panik- und Angstattacken. Maßnahmen für einen verbesserten Umgang mit psychisch belasteten Studierenden lassen sich in Handlungen vor, während und abschließend nach der Geländeveranstaltung einteilen.

Maßnahmen VOR der Geländeveranstaltung
Fundamental wichtig sind im Vorfeld der Veranstaltung eine offene und transparente Kommunikation
bezüglich allgemeiner Abläufe der Geländeveranstaltung. Dies bezieht sich auf die Unterkunft, Reisemittel, Verpflegung, Tagesabläufe, körperliche Belastungen, Zugang zu Sanitäreinrichtungen, Sicherheitsaspekte und ähnlichem. Mögliche Ängste und Sorgen von Studierenden können so vorab geklärt und gemildert
werden. Die Frage „Wie viel kann man Studierenden zumuten?“ lässt sich nicht pauschal beantworten und beruht letztlich auf der persönlichen Bewertung, was die Veranstaltungsleitung auf Grund der individuellen Einschätzung für inhaltlich und organisatorisch relevant hält. Eine umfassende Aufklärung und Kommunikation im
Vorfeld ist eine wichtige Maßnahme, damit Studierende vor Ort nicht unvorbereitet in (absehbare)
herausfordernde Situationen gelangen. Dabei ist es auch wichtig, vorhandene kommunikative
Hemmschwellen zu senken, damit Studierende bekannte psychische Probleme vorab in einem geschützten Rahmen kommunizieren können.

Lehrende sollten im Vorfeld der Geländeveranstaltung Gesprächsangebote für Personen mit psychischen Problemen ermöglichen. Das Ziel ist eine Kommunikation mit der Person hinsichtlich potenzieller Herausforderungen und möglichen Maßnahmen. Oftmals wissen betroffene Personen sehr gut, was ihnen hilft und welche Unterstützung sie benötigen. Im Rahmen eines Gesprächs kann geklärt werden, welche Hilfe geleistet
werden kann und welche Maßnahmen nicht möglich sind. Die Wahrung eigener Grenzen sollte dabei immer beachtet werden. Die betroffene Person kann eine persönliche Vertrauensperson aus der Gruppe benennen („Buddy“), welche als Entlastung für die Lehrperson fungieren kann. Zusätzlich kann individuell besprochen werden, ob die restliche Gruppe im Vorfeld der Geländeveranstaltung über die persönlichen Belastungen der Person informiert werden soll.

Die Gruppe kann auf Wunsch auch Personen aus ihrem Kreis als Vertrauenspersonen bestimmen, die als Ansprechpartner:innen und Sprachrohr gegenüber der Lehrenden fungieren. Anliegen von Studierenden können auf diese Weise anonym an die Lehrperson gebracht werden. Schlussendlich sind im Vorfeld auch mögliche rechtliche Rahmenbedingungen zu klären. Ab wann kann eine Person die Gruppe ggf. verlassen? Wo beginnt die eigene Aufsichtspflicht als Lehrperson, wo hört sie auf?

Maßnahmen WÄHREND der Geländeveranstaltung
Grundsätzlich gilt, dass viele Situationen während Geländeveranstaltungen sehr individuell gelöst werden müssen. Dies bietet Chancen und Risiken zugleich. Die wichtigste Regel bei sämtlichen Vorfällen lautet: Ruhe bewahren – in der Regel besteht bei psychischen Symptomen wie Panikattacken keine akute gesundheitliche Gefahr! Der Schutz der eigenen Person steht an höchster Stelle. Es ist zudem wichtig, authentisch und glaubwürdig zu bleiben. Jede:r darf selbst entscheiden, was er/sie leisten kann und möchte. Persönliche Grenzen sollten klar benannt werden.
Sich um weitere (externe) Hilfe zu kümmern, ist für Lehrende ein ebenso wichtiger Baustein, wie selbst Hilfe leisten zu können. Wenn Studierende z. B. in irgendeiner Form über Ängste, Reizüberflutungen, Depressionen oder Niedergeschlagenheit klagen, ist es hilfreich, die Situation zunächst zu beobachten und das Gespräch zu suchen, um eine bestmögliche eigene Einschätzung hinsichtlich des weiteren Geländeaufenthalts zu erhalten. Auch ohne professionelle psychologische Ausbildung kann mit einem allgemeinen Basiswissen zu Symptomen und Maßnahmen wichtige (Erst-) Hilfe geleistet und Situationen besser eingeordnet werden. Wenn nicht bereits als Vorbereitung geschehen, können solche Informationen auch kurzfristig anhand von Steckbriefen nachgeschlagen werden (hilfreiche Tipps u. a. unter https://www.mhfa-ersthelfer.de/de/Guidelines/ ).

Vertraulichkeit muss im Rahmen der Möglichkeiten sichergestellt werden. Aber es gibt Themen, wo die eigene Kompetenz fehlt und externe Hilfe notwendig ist Hierrüber müssen die Betroffenen vorab aufgeklärt werden, und es muss auch kommuniziert werden, dass dadurch ggf. keine Vertraulichkeit mehr gewährleistet werden kann. Selbst- und Fremdgefährdung darf und soll nicht vertraulich behandelt werden, sondern muss offen angesprochen werden. Dies bezieht sich auf alle Vertrauenspersonen der Betroffenen.

Maßnahmen NACH der Geländeveranstaltung
Es hat sich gezeigt, dass der persönliche Austausch, z. B. im Rahmen einer professionellen Supervision von entsprechenden Abteilungen an der Universität ausgesprochen wertvoll ist. Durch den Austausch von Erfahrungen kann mehr Sicherheit im Umgang mit herausfordernden Situationen geschaffen und das eigene Handeln reflektiert werden. Dabei ist eine professionelle Unterstützung und Nachbereitung für die jeweilige Lehrperson sehr hilfreich. Eigene Grenzen und die Abgrenzung zu einem Fall müssen klar kommuniziert werden. Trotz der Betrachtung
eigener Grenzen im Vorfeld zeigt die Erfahrung, dass oftmals erst im Nachgang Schwierigkeiten auftreten, Vorfälle abschließend einordnen zu können, wenn man unvorbereitet mit psychischen Belastungen von Studierenden konfrontiert wurde. Dies ist insbesondere notwendig, wenn ein potenziell traumatisches Ereignis vorgefallen ist (z. B. sexuelle Übergriffe, schwere Unfälle, Personen in Lebensgefahr). Menschen reagieren sehr unterschiedlich auf solche Ereignisse und die Verarbeitung/Einordung darauf muss individuell geschehen, um mögliche psychische Belastungen frühzeitig zu erkennen.

Ausblick
Die hier vorgestellten Maßnahmen sind nur ein Auszug der entwickelten Handlungsempfehlungen und somit weder abschließend noch vollständig. Ebenso wurde hier nicht die gesamte Bandbreite an psychischen Belastungen für Studierende abgedeckt. Dieses Editorial soll vielmehr dazu ermutigen, eigene Ideen, Strukturen und Maßnahmen zu entwickeln und den Kontakt mit entsprechenden Anlaufstellen zu suchen. Institute können individuelle Ersthelfer:innen für mentale Gesundheit fördern (z. B. durch das Mental Health First Aid Programm – MHFA Ersthelfer-Kurse für psychische Gesundheit). Hiermit können an den Instituten durch einzelne Personen als Multiplikator-Effekte erreicht werden und die Thematik weitergetragen werden. Es ist etablierte Praxis, dass Ersthelfer:innen für körperliche Notfälle benannt werden. Für psychische (Not-) Fälle ist dies meistens nicht der Fall. Möglicherweise ist die Wahrscheinlichkeit jedoch weitaus höher, dass man einem Menschen in einer psychischen als in einer körperlichen Stress- und Notfallsituation helfen muss.

Wie bei vielen anderen Themen kann auch hier der VDGH eine geeignete Plattform zur institutsübergreifenden Schaffung von Synergien sein. Dieses Thema betrifft nahezu alle Studiengänge aller Institute. Es wäre trotz nachvollziehbarer individueller Kapazitätsgrenzen wünschenswert, Expertise, Erfahrungen und Fähigkeiten auszutauschen und zu bündeln. Dies wäre ein guter Anlass für ein zeitlich begrenztes, projektförmiges Engagement einzelner Mitglieder auch über den Vorstand und den Wissenschaftlichen Beirat hinaus (vgl. Editorial RUNDBRIEF 315). Hiervon können alle Mitglieder des VGDH profitieren. Daher möchte ich an dieser Stelle alle Interessierten aufrufen, mit uns in Kontakt zu treten.

Geländeveranstaltungen sollten auch in Bezug auf die mentale Gesundheit professionell geplant, durchgeführt und nachbereitet werden. Dies ist nicht zuletzt auch maßgeblich entscheidend dafür, dass bei Geländeveranstaltungen die Inhalte im Mittelpunkt stehen können und der Lernerfolg maximiert wird. Hiervon profitieren schlussendlich nicht nur Studierende mit psychischen Belastungen, sondern alle Beteiligten. Exkursionen und Geländepraktika sollen für möglichst viele Studierende auch weiterhin zu den Highlights ihrer Zeit an der Universität zählen Selbstverständlich ist die mentale Gesundheit aber nicht nur im Rahmen von Lehrveranstaltungen relevant, sondern auch bei reinen Forschungsreisen.

Felix Henselowsky (Mainz)