Forschen im Krieg – Erfahrungen aus der Ukraine
Welche Herausforderungen ergeben sich durch die kriegsbedingte Migration aus dem Osten der Ukraine in den Westen des Landes? Unter dieser Fragestellung führt die Arbeitsgruppe Wirtschaftsgeographie an der Universität Tübingen in Kooperation mit der Universität Lwiw ein Forschungsprojekt durch, das durch den Krieg unter erschwerten Forschungsbedingungen stattfindet.
Prof. Dr. Sebastian Kinder (Tübingen) und Prof. Dr. Iryna Hudzeliak (Lwiw) geben im Gespräch mit Franziska Krachten Einblicke.
Welche Auswirkungen hat der Zustrom der Geflüchteten aus dem Osten für die Westukraine?
Kinder: Die Zahl der Geflüchteten wurde im Mai 2022 auf rund 8 Mio. geschätzt und es ist nicht klar, ob und wann sie in ihre Herkunftsorte zurückkehren werden. Dies stellt die westukrainischen Gemeinden einerseits vor Probleme: Den Geflüchteten muss Wohnraum zur Verfügung gestellt werden, die Kinder müssen in die Schule gehen, Erwerbsmöglichkeiten fehlen und es kommt auch zu kulturellen Spannungen. Andererseits haben viele westukrainische Gemeinden seit den 1990er-Jahren einen erheblichen Bevölkerungsverlust erfahren. Sie erhoff en sich nun, ihre demografischen Probleme zumindest teilweise lösen zu können.
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Welche Herausforderungen gibt es auf ukrainischer Seite beim gemeinsamen Forschungsprojekt?
Hudzeliak: Unter den Kriegsbedingungen werden statistische Daten kaum noch veröffentlicht. Zwar wurde die statistische Kategorie „befristete Übersiedler“ für Kriegsflüchtende innerhalb der
Ukraine geschaff en, Daten sind aber kaum zugänglich. Auf kommunaler Ebene lassen sich bei Verantwortlichen zwar Informationen beschaffen. Interviews mit Betroffenen und Nichtregierungsorganisationen treff en angesichts der Unsicherheiten eines Landes im Krieg aber oft auf Vorbehalte.
Inwieweit haben sich Forschung und Lehre seit Kriegsbeginn verändert?
Hudzeliak: Nach zwei Jahren Pandemie bedeutet der uns aufgezwungene Krieg eine Fortsetzung des Ausnahmezustands. Dabei sind wir in Lwiw noch in der günstigen Situation, dass wir trotz einiger Raketenangriffe von größeren Zerstörungen verschont geblieben sind. So ist das Geographische Institut in Charkiw zerstört worden, in Kyjiw erlitt es beträchtliche Schäden. Das Institut in Cherson wurde nach Iwano-Frankiwsk evakuiert. In unserer Fakultät findet die Lehre nach wie vor teils online statt. Laborübungen werden aber grundsätzlich in Präsenz gehalten. Seit dem Kriegsbeginn sind unsere Studierenden aber nicht mehr so motiviert wie früher. Viele drücken Sorgen, manche wollen durch ein Studium auch nur vom Armeedienst befreit werden.
Positiv ist zu erwähnen, dass unsere finanzielle Ausstattung trotz des Krieges stabil geblieben ist und die Regierung sogar teilweise die Gehälter erhöht hat.
Kontakt:
Prof. Dr. Sebastian Kinder Uni Tübingen, Geographisches Institut, sebastian.kinder@uni-tuebingen.de
Prof. Dr. Iryna Hudzeliak Nationale Iwan-Franko-Universität Lwiw, Wirtschafts- und Sozialgeographie
Der Artikel ist in Zusammenarbeit mit der Geographischen Rundschau im Westermann-Verlag, Heft 5-2024 erschienen.