Rückblick auf ein Jahr Massenflucht aus der Ukraine – Birgit Glorius im Gespräch mit Franziska Krachten
Inwieweit hat der Krieg in der Ukraine die größte Fluchtbewegung in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs ausgelöst? Und auf welche Regionen außerhalb der Ukraine konzentrieren sich die Fluchtbewegungen?
B. Glorius: Innerhalb Europas hat es nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit seinen massenhaften Vertreibungen und Fluchtbewegungen immer wieder Situationen von Massenflucht gegeben, die mit kriegerischen Auseinandersetzungen verbunden waren. Während des Krieges in Bosnien, der zwischen 1992 und 1995 mehr als 100.000 Tote forderte, wurde die Hälfte der Bevölkerung vertrieben oder musste fliehen. Seither war Europa im weltweiten Vergleich eher wenig von den globalen Fluchtbewegungen betroffen, die sich im Jahr 2022 auf 100 Millionen Menschen summierten. Dagegen sehen die Asylantragszahlen, die sich zwischen 2014 und 2021 in der EU auf 5,7 Millionen beliefen, vergleichsweise gering aus.
Nun haben wir wieder einen Krieg „vor der Haustür“, der eine große humanitäre Anstrengung erfordert. Als im Februar 2022 die russischen Angriffe auf die gesamte Ukraine starteten, nahm ich den seit 2014 andauernden Krieg in der Ostukraine als Ansatzpunkt, um mögliche Fluchtbewegungen abzuschätzen. Seit 2014 hat etwa ein Viertel der Bevölkerung die Ostukraine verlassen, dabei sind viele als Binnenflüchtlinge innerhalb des Landes geblieben. Übertragen auf die gesamte Ukraine würde dies bedeuten, dass jede und jeder Vierte der rund 40 Millionen Einwohner*innen durch die Kampfhandlungen, die Zerstörungen und den Verlust von Lebensgrundlagen in die Flucht getrieben wird. Die neuesten Zahlen des UNHCR dokumentieren acht Millionen registrierte Flüchtlinge aus der Ukraine innerhalb Europas sowie 5,3 Millionen Binnenflüchtlinge, in Summe also über 13 Millionen. Damit hat sich meine Prognose leider bewahrheitet.
Vor allem in den ersten Kriegswochen war die Fluchtdynamik enorm. Das bekamen insbesondere die Anrainerstaaten der Ukraine zu spüren, allen voran Polen, wo in den ersten zehn Tagen seit Beginn des Krieges rund 900.000 Menschen angekommen sind. Zum Vergleich: Das sind in etwa so viele, wie in Deutschland zum Höhepunkt der sog. Flüchtlingskrise 2015 angekommen sind – aber im gesamten Jahr! In Summe sind in den ersten zehn Kriegstagen eineinhalb Millionen Menschen geflohen. Auch das entspricht der Gesamtzahl aller in die EU Geflüchteten im ganzen Jahr 2015 – dem bislang stärksten Jahr der Flüchtlingsankunft seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. In Moldawien, dem ökonomisch ärmste Land Europas, sind in den ersten zehn Kriegstagen schätzungsweise 240.000 Menschen angekommen – bei einer Gesamtbevölkerung von 2,6 Millionen sind das weitaus mehr Geflüchtete pro Kopf, als in Polen. Diese Zahlen geben einen Hinweis auf die immensen logistischen Anstrengungen im Bereich der Erstversorgung, selbst wenn viele der damals Angekommenen inzwischen in andere Länder weitergereist sind.
Auch ein Jahr nach dem Kriegsausbruch ist zu beobachten, dass viele Geflüchtete in der Nähe ihres Herkunftslandes geblieben sind. Nach den Daten des UNHCR leben die meisten Flüchtlinge aus der Ukraine heute in der Russischen Föderation (rund 2,8 Millionen), gefolgt von Polen (rund 1,6 Millionen) und Deutschland, wo rund eine Million registriert sind. In der Tschechischen Republik sind rund 480.000 Geflüchtete registriert, in der Slowakei, Rumänien und Moldawien jeweils rund 100.000.
Die Daten zu Grenzübertritten in der Ukraine zeigen, dass bereits seit April 2022 parallel zu den Ausreisen auch hohe Zahlen von Grenzübertritten in die Ukraine dokumentiert wurden. Es hat sich eine transnationale Pendelbewegung eingestellt; Flüchtlinge kehren temporär zurück, um nach Familienangehörigen oder nach ihrer Wohnung zu sehen, Behördengänge zu erledigen oder Hilfsgüter zu transportieren. Das geht natürlich besser, wenn man in relativer Nähe lebt. Dennoch hat sich die Fluchtbewegung auch auf viele entferntere Länder erstreckt, wie z.B. die Türkei, Italien oder Portugal. In diesen Ländern gab es bereits vor dem Krieg eine relativ große ukrainische Diaspora, und das waren Ankerpunkte für die Geflüchteten.
Viele dieser Beobachtungen decken sich mit Erkenntnissen der allgemeinen geographischen Migrationsforschung, etwa was Distanz und Dynamik der Migrationsbewegungen anbelangt, oder auch die Bedeutung von Netzwerken für Zielortentscheidungen sowie die Tendenz zur Herausbildung transnationaler Bezüge.
Wer ist (bisher) geflohen? Gibt es zum Beispiel in Bezug auf das Alter, die Heimatregion, das Geschlecht oder die Bildung Schwerpunkte?
B. Glorius: Ja, die gibt es. Verglichen mit dem soziodemographischen Profil der gesamten ukrainischen Bevölkerung könnte man das Profil der Geflüchteten mit „jünger, weiblicher, gebildeter“ charakterisieren. Für Deutschland können wir dabei auf die Daten der IAB-BiB/FReDA-BAMF-SOEP-Befragung zurückgreifen, eine Geflüchteten-Sonderstichprobe des Sozioökonomischen Panels, die seit Sommer 2022 auch ukrainische Geflüchtete umfasst. Bei diesem Projekt handelt es sich um eine institutionelle Kooperation des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), das das Sozioökonomische Panel betreut, und des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAM), des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) sowie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge.
Allein 40 % der Geflüchteten sind Minderjährige, das Durchschnittsalter (Median) lag im Juni 2022 bei 28 Jahren, verglichen mit einem Median von 41 Jahren in der ukrainischen Gesamtbevölkerung. Dann ist natürlich der Frauenanteil bemerkenswert, er lag im Sommer unter den 20-bis 70-jährigen Geflüchteten aus der Ukraine bei 80 %, verglichen mit 53 % in der ukrainischen Gesamtbevölkerung. Zudem ist mit 72 % tertiären Bildungsabschlüssen unter den geflüchteten Erwachsenen ein überdurchschnittlicher Bildungsgrad zu verzeichnen, der natürlich auch mit dem großen Anteil jüngerer Erwachsener zusammenhängt, die im Vergleich zu den Älteren häufiger einen akademischen Bildungsweg absolviert haben. Auch hinsichtlich der Stellung im Beruf zeigen die Befragungsdaten, dass überproportional viele Personen nach Deutschland geflohen sind, die in der Ukraine eine relativ hohe berufliche Stellung hatten.
Diese Befunde entsprechen Erkenntnissen aus der allgemeinen Migrationsforschung in Bezug auf die Selektivität von Migration. Auch wenn es hier um Flucht geht und nicht um planvolle Migration, so zeigt sich, dass die Ressourcenausstattung der ins Ausland fliehenden besser ist als jener, die im Land verbleiben oder gar nicht mobil sind. Die Verfügbarkeit von materiellen Ressourcen, Bildung, Sprachkenntnissen, Reiseerfahrungen und persönlichen sozialen Netzwerken im Ausland erleichtert die Flucht oder macht sie manchmal überhaupt erst möglich.
Den Befragungsdaten zufolge stammen ein Großteil der ukrainischen Geflüchteten in Deutschland aus Regionen, in denen starke Kampfhandlungen zu verzeichnen sind oder waren, nämlich aus der Ostukraine (32 %), dem Süden der Ukraine (14 %) und aus Kiew (19 %). Aus qualitativen Befragungen wissen wir, dass etliche der nach Deutschland Geflohenen ursprünglich aus der Ostukraine stammen und sich nach 2014 in einer anderen Region der Ukraine niedergelassen haben. Sie werden also jetzt bereits zum zweiten Mal vertrieben. Besonders diese Menschen werden aller Voraussicht nach dauerhaft in Deutschland verbleiben wollen, um sich hier wieder ein stabiles Leben aufzubauen.
Unter welchen Bedingungen leben die geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainer heute? Gibt es hier Unterschiede zwischen den Aufnahme-Ländern?
B. Glorius: Am prekärsten dürften die Lebensbedingungen für die Binnenflüchtlinge sein. Die meisten von ihnen haben ihre Wohnung, ihr gesamtes Hab und Gut und ihre Erwerbsmöglichkeiten durch den Krieg verloren und leben in Provisorien. Hinzu kommen die Zerstörungen, die Stromausfälle und die allgemeinen Versorgungsprobleme in der Ukraine. Viele internationale Hilfsorganisationen versuchen diesen Menschen beizustehen, z. B. mit Lebensmittellieferungen oder medizinischen Versorgungseinsätzen.
Jene, die in EU-Länder geflohen sind, können sich unter der EU-Massenzustrom-Richtlinie als Flüchtlinge registrieren lassen und genießen damit temporären Flüchtlingsschutz. Diese Richtlinie wird in der EU erstmals angewandt und wurde durch alle EU-Staaten in nationale Gesetzgebungen überführt. Allerdings sind – wie bereits bei der Umsetzung der Richtlinien des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems – Unterschiede zwischen den Ländern zu beobachten, etwa was den Zugang zum und die Dauer des gewährten Schutzstatus angeht, oder auch in Bezug auf die Ausgestaltung der Unterstützungsleistungen, die mit dem Schutzstatus verbunden sind. Weitere Unterschiede, die vor allem für den längerfristigen Aufenthalt relevant sind, sind die Qualität der sozialen Sicherungssysteme und eventuelle temporäre Beschränkungen der Unterstützung von Geflüchteten.
Die derzeitigen Lebensverhältnisse der ukrainischen Geflüchteten in Europa unterscheiden sich durch die Aufnahmestrukturen, die Versorgungsinfrastruktur im Bereich Wohnen, Bildung, Gesundheit, sowie hinsichtlich der Unterstützungen beim Arbeitsmarktzugang, also z. B. Beratung, Anerkennungsverfahren, Sprachkurse. Besonders relevant ist hier eine Betrachtung der ostmitteleuropäischen Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn, die ein Gros der Geflüchteten aufgenommen haben. Alle diese Staaten haben bislang keine ausgewiesene Infrastruktur zur Eingliederung von Zuwandernden oder Geflüchteten gehabt und mussten diese erst aufbauen. Während man sich zunächst auf die Erstversorgung der Ankommenden konzentriert hatte, geht es jetzt in allen Ländern vor allem um Fragen der längerfristigen Versorgung und Teilhabe, vor allem in den Bereichen Wohnen, Bildung, Gesundheit und Arbeitsmarkt. Zwar ist der Arbeitsmarkt in den meisten ostmitteleuropäischen Ländern derzeit sehr aufnahmefähig, aber es ergeben sich Probleme vor allem hinsichtlich mangelnder Sprachkenntnisse und fehlender Kinderbetreuungsmöglichkeiten. Besonders gut scheint die Arbeitsmarktintegration zurzeit in Tschechien und Polen zu funktionieren, die bereits vor dem Krieg eine große ukrainische Diaspora hatten. Nach behördlichen Angaben hatten Ende August 2022 in Polen bereits zwei Drittel der Geflüchteten im erwerbsfähigen Alter eine Beschäftigung, in Tschechien war es im Juni 2022 ca. die Hälfte der Geflüchteten. In beiden Ländern waren dies vorwiegend Teilzeitbeschäftigungen oder befristete Tätigkeiten, und häufig arbeiteten die Geflüchteten unter ihrem eigentlichen Qualifikationsniveau.
Große Sorgen bereitet in vielen Ländern die schulische Integration, wobei hier die Bestimmungen extrem unterschiedlich sind, beispielsweise bei der Frage der Schulpflicht und auf welche Weise diese erfüllt wird. Rein zahlenmäßig sieht es so aus, als seien die Schulbesuchsquoten ukrainischer Flüchtlingskindern im Grundschulalter höher als bei Jugendlichen. Letztere versuchen vielfach durch Onlineunterricht im ukrainischen Schulsystem zu verbleiben, um den ukrainischen Schulabschluss zu absolvieren.
Dadurch, dass die ukrainischen Geflüchteten in den meisten Aufnahmeländern nicht gleichmäßig verteilt leben, gibt es vor allem in den großen Ankunftszentren wie in Prag, Warschau oder Wroclaw Probleme in der Erweiterung der Schulinfrastruktur. Während einer Recherchereise nach Polen, die ich im vergangenen Juli unternahm, äußerten kommunale Vertreter*innen unisono ihre „Angst vor dem Herbst“, wo sie mit dem Beginn des neuen Schuljahres eine große Zahl von Schulanmeldungen ukrainischer Kinder erwarteten, ohne dafür infrastrukturell gerüstet zu sein. Man äußerte den Bedarf an Containermodulen und Schulmobiliar, und natürlich an Lehrkräften, denn obgleich eine große Zahl ausgebildeter ukrainischer Pädagog*innen theoretisch bereitstand, sah man die formale Anerkennung ihrer Qualifikation als große Hürde.
Ein weiterer Grund für die „Angst vor dem Herbst“ war in Polen der erwartete Auszug vieler Ukrainer*innen aus den bisherigen Mitwohngelegenheiten, da zu diesem Zeitpunkt die von der Regierung gewährte finanzielle Unterstützung der polnischen Quartiergeber*innen auslaufen würde. Angesichts des ohnehin großen Wohnungsmangels in den polnischen Metropolen sah man die angemessene Unterbringung der ukrainischen Geflüchteten als enorme Herausforderung an.
Beim Besuch von Massenunterkünften fiel mir auf, dass es dort einen relativ großen Anteil von benachteiligten Bevölkerungsgruppen wie etwa Roma*Romnja gab. Sie werden praktisch nie von privaten Quartiergeber*innen akzeptiert und werden auch auf dem Wohnungsmarkt diskriminiert. Der Umgang mit dieser Minderheit ist nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen auch in den andere ostmitteleuropäischen Staaten problematisch.
Was in allen ostmitteleuropäischen Ländern hervorgehoben werden muss, ist die anfänglich überwältigende zivilgesellschaftliche Solidarität mit den ukrainischen Geflüchteten. Anders als bei den Geflüchteten aus Drittstaaten, die man rasch als „Wirtschaftsflüchtlinge“ einstuft, ist es bei den ukrainischen Geflüchteten die Kombination als wahrgenommener kultureller und ethnischer Nähe, einer geteilten Geschichte sowie der wahrgenommenen Vulnerabilität der Flüchtenden, die diese Solidarität hervorriefen und auch nachhaltig etablierten. Umfrageergebnissen zufolge ist die Solidarität auch weiterhin hoch, aber angesichts der wahrgenommenen persönlichen Folgen des Krieges wie steigende Energiepreise und Lebenshaltungskosten geht die Anteilnahme zunehmend zurück.
Vielleicht auch als Reaktion auf die geänderte öffentliche Stimmung, oder aus Sorge um ein Kippen der Aufnahmebereitschaft, wurden in den meisten ostmitteleuropäischen Ländern inzwischen Verschärfungen und Restriktionen in das Unterstützungssystem eingebaut oder zumindest diskutiert.
In Polen wurde beispielweise im Oktober ein Gesetzesvorschlag vorgelegt, der eine Beteiligung von Geflüchteten an den Kosten ihrer Unterbringung vorsah. In Tschechien wurde bereits im Mai 2022 das erst im März verabschiedete Aufnahmegesetz „Lex Ukrajina“ nachjustiert, indem der Zugang zu staatlichen Leistungen erschwert und an verschiedene Pflichten gebunden wurde. Zu den Neuregelungen gehörte auch ein restriktiverer Umgang mit der temporären Ausreise der aufgenommenen Ukrainer*innen. In Ungarn können Geflüchtete im erwerbsfähigen Alter, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, bereits nach 45 Tagen zur Arbeitsaufnahme verpflichtet werden. Eine Befragung, die die IOM im Sommer 2022 unter Rückkehrer*innen aus Ungarn in die Ukraine durchführte, ergab als Hauptgründe die fehlende Arbeitsmöglichkeit, gefolgt von mangelnden Ressourcen für den Lebensunterhalt, was Hinweise auf die prekarisierenden Effekte der staatlichen Restriktionen gibt. Wir sehen an diesen Beispielen, dass die langfristigen Niederlassungsbedingungen für ukrainische Geflüchtete innerhalb Europas durchaus unterschiedlich sind, und das sollte auf politischer und wissenschaftlicher Ebene unbedingt im Blick behalten werden.
Gibt es in der Geographie Forschungsprojekte, die speziell die Fluchtbewegungen aus der Ukraine in den Blick nehmen? Welche?
B. Glorius: Ich würde diese Frage nicht exklusiv auf die Geographie beziehen, denn die Flucht- und Migrationsforschung ist ja ein extrem interdisziplinäres Feld und viele, gerade durch EU-Gelder finanzierte Projekte spielen sich in entsprechend interdisziplinär besetzen Konsortien ab. Entsprechende Förderrichtlinien und Ausschreibungen haben leider einen langen Vorlauf, so dass ich frühestens 2024 eine nennenswerte Zahl von Forschungsprojekten erwarte, die sich dezidiert mit dem Thema Flucht aus der Ukraine beschäftigen. Was ich derzeit beobachte ist, dass dort wo es möglich ist Fragen zur Aufnahme ukrainischer Geflüchteter in laufende Forschungsprojekte integriert werden. Das machen wir beispielsweise in unserem derzeit laufenden Projekt WholeCOMM („Exploring the Integration of Post-2014 Migrants in Small and Medium-Sized Towns and Rural Areas from a Whole of Community Perspective”) so. Das Projekt untersucht die Flüchtlingsaufnahme in kleineren Gemeinden im breiteren Kontext von Gemeindeentwicklung. Eigentlich hatten wir unsere empirischen Arbeiten im Februar 2022 schon fast abgeschlossen, aber durch die geänderte Lage, auch in unseren Untersuchungskommunen, haben wir hier nochmal eine weitere Interviewrunde eingebaut. Das ist in derartigen Projekten auch wichtig, um dem Anspruch gerecht zu werden, für die an dem Forschungsprozess beteiligten Kommunen einen Mehrwert zu generieren.
Was ich zudem beobachte, sind viele Ad-Hoc-Aktivitäten von Forschenden aus verschiedenen europäischen Ländern, gemeinsam aus den verfügbaren Daten, Statistiken und Dokumenten ein Lagebild der Aufnahmesituation zu erstellen. Ich selbst werde beispielsweise auf der nächsten IMISCOE-Konferenz in Warschau gemeinsam mit meinem Kollegen Jeroen Doomernik von der Universität Amsterdam einen Workshop leiten, in dem wir zusammen mit Kolleg*innen aus mehreren europäischen Ländern die Implementierung der Direktive zum temporären Schutz in Europa vergleichend analysieren und mögliche Auswirkungen auf die Gemeinsame Europäische Asylpolitik diskutieren. Ähnliche Initiativen wird es in den nächsten Monaten sicher vielerorts geben.
Zudem möchte ich darauf hinweisen, dass es ja bereits jetzt sehr viel Expertise von Geograph*innen zum Thema Flucht und Flüchtlingsaufnahme mit Bezug zur Ukraine gibt, die auch intensiv mit der Öffentlichkeit geteilt wird. Sowohl mein Kollege Benjamin Etzold vom Bonn International Centre for Conflict Studies als auch ich selbst werden dazu regelmäßig von den Medien angefragt. Häufig wird hier vor allem unsere migrationswissenschaftliche Einordnung der Lage gefragt, etwa hinsichtlich zirkulärer und transnationaler Mobilität oder zur Bedeutung von Netzwerken für Fluchtprozesse. Ich denke, dass wir an dieser Stelle bereits jetzt sehr wertvolle Arbeit leisten und dadurch hoffentlich auch den Kernkompetenzen der Geographie zu einer stärkeren öffentlichen Sichtbarkeit verhelfen.
Einen Überblick zur Flucht- und Flüchtlingsforschung bietet das im März 2023 erscheinende Handbuch im Nomos-Verlag:
T. Scharrer, B. Glorius, O. Kleist, M. Berlinghoff (Hrsg.) (2023): Flucht- und Flüchtlingsforschung. Baden-Baden.
Das Interview ist im Rundbrief 301 erschienen.
Bild 1: B. Glorius (Foto: Jacob Müller, TU Chemnitz)
Bild 2: Bilder, die von ukrainischen Kindern in einer Flüchtlingsunterkunft in Warschau gemalt wurden und die die Verbundenheit zwischen Polen und Ukraine zum Ausdruck bringen (Foto: B. Glorius)